Autorin: Fanny Pohontsch
Kohlenstoff im Kreislauf
Interview mit Prof. Martin Gräbner, Dr. Matthias Jahn, Dr. Hannes Richter, Dr. Jörg Richter und Prof. Michael Stelter
Kohlenstoff (oder C wie carbon) hat einen schlechten Ruf. Andererseits ist Kohlenstoff allgegenwärtig. Er ist das Atom des Lebens und prägt unsere gesamte Wirtschaft. Kohlenstoff ist Teil unserer DNA, der Lebensmittel, die wir essen und der Produkte, die wir täglich benutzen. Kohlenstoff ist Teil der Kraftstoffe, die unsere Fahrzeuge und Fabriken antreiben oder Wohnungen heizen, und der Materialien, die wir zum Bau unserer Städte verwenden. In der Industrie ist Kohlenstoff Energieträger und Rohstoff zugleich – die gesamte organische Chemie und die nachgelagerten Wertschöpfungen, darunter die Baustoff- und Kunststoffindustrie, basieren auf Kohlenstoff.
In der Natur fließt Kohlenstoff kontinuierlich zwischen der Atmosphäre, dem Ozean, der Vegetation und der Erdkruste. Erst der Mensch hat den Kreislauf seit der industriellen Revolution durch die Nutzung der fossilen, endlichen Kohlenstoffquellen Erdöl, -gas und Kohle aus dem Gleichgewicht gebracht. Wird fossiler Kohlenstoff verbrannt, reagiert er mit Sauerstoff. Es entsteht Kohlendioxid (CO2). Diese Emissionen aus den Abgasen der Industrie oder der Mobilität an Land, in der Luft und auf See haben dazu geführt, dass die CO2-Konzentration in der Atmosphäre seither mehr als verdoppelt wurde – mit gravierenden Auswirkungen auf das Klima.
Die daraus abgeleiteten Ziele, auf die auch die Forscher*innen am Fraunhofer IKTS hinarbeiten, sind vielfältig: Es gilt, weitere klimaschädliche Emissionen gänzlich zu vermeiden, um die menschlichen Auswirkungen auf das Klima zu reduzieren. Gleichzeitig müssen die endlichen Ressourcen unserer Erde geschützt werden. Um den Kohlenstoffbedarf für die täglich genutzten Produkte und Kraftstoffe in unserer modernen Gesellschaft klimaneutral zu decken, bedarf es alternativer regenerativer Kohlenstoffquellen – sowie Prozesstechnik, mit der sich eine nachhaltige Kohlenstoff-Kreislaufwirtschaft realisieren lässt, die den Kohlenstoff, der bereits im Umlauf ist, wieder und wieder nutzt (CCU, Carbon Capture and Utilization: Kohlenstoffabtrennung und -nutzung).
Welche nachhaltigen Kohlenstoffquellen gibt es?
M. Gräbner: Ich denke, wenn wir Kohlenstoff jenseits der fossilen Träger als Basis für Kraftstoffe oder für die chemische Industrie zur Verfügung stellen wollen, dann haben wir die folgenden Möglichkeiten: Erstens kann CO2 – als energetisch schlechteste Form des Kohlenstoffs – mit hohem Aufwand über Direct Air Capture aus der Atmosphäre gewonnen werden. Besser aber nutzt man unvermeidbare industrielle Punktquellen. Zweitens lässt sich biogener Kohlenstoff aus Biomasse nutzen, noch bevor er oxidiert wird. Drittens können wir sogenannten anthropogenen, also vom Menschen gemachten Kohlenstoff aus Kunststoffen zurückholen, indem wir Abfallströme chemisch recyceln.
M. Stelter: Kohlenstoffkreisläufe sind komplex, müssen kreativ gedacht werden. Damit der vorhandene Kohlenstoff zirkulieren kann, setzen wir am Fraunhofer IKTS auf vielfältige Technologien für zukunftsweisende Nutzungskonzepte.
Durch die Elektrifizierung mit regenerativen Quellen und den Ausbau der Wasserstoff-Infrastruktur konnten bereits erhebliche Emittenten energetisch umgerüstet werden, z. B. Bereiche der Stahlindustrie. Wo wird CO2 langfristig unvermeidbar bleiben und warum? Wie ließe sich der Kohlenstoff darin nutzen?
H. Richter: Insgesamt sind in Deutschland rund 30 % der industriellen CO2-Emissionen prozessbedingt, darunter die Emissionen der Kalk- und Zementindustrie. Hier werden zwei Drittel des CO2-Ausstoßes nicht vermeidbar sein. Diese kommen aus dem Kalkstein, einem Carbonat, selbst. Kalk ist zwar auch eine fossile Kohlenstoffquelle, als Grundstoff für die Zementherstellung in der Baustoffindustrie jedoch nicht wegzudenken.
M. Jahn: Daher verfolgen wir den Ansatz, unvermeidbare CO2-Emissionen aus Abgasen direkt dort abzutrennen, wo sie entstehen. Das CO2 lässt sich vor Ort für Synthesen nutzen oder über eine Gaspipeline zu Raffinerien und Chemieanlagen transportieren, wo es stofflich verwertet werden kann. Im Rahmen des BMBF-Projekts Colyssy zeigten wir z. B. direkt im Kalkwerk einen Weg dafür auf: Keramische Filterkerzen entstauben das Abgas zunächst. Anschließend kann das CO2 durch keramische Membranen abgetrennt und in einem Hochtemperatur-Elektrolyse-Reaktor (SOEC) mit 10 kW-Leistung bei über 750 °C in Kohlenmonoxid umgewandelt werden. Derselbe Reaktor erzeugt gleichzeitig aus Wasserdampf Wasserstoff. Kohlenmonoxid und Wasserstoff ergeben zusammen Synthesegas. Betrieben wird der Elektrolyse-Reaktor mit regenerativ erzeugtem Strom. In einem nachgeschalteten, ebenfalls am IKTS entwickelten Fischer-Tropsch-Reaktor überführen wird das Synthesegas in flüssige Kohlenwasserstoffe und Wachse bzw. synthetisches Rohöl, sogenanntes SynCrude. Mit dem CO2 aus allen deutschen Kalk- und Zementwerken ließe sich ein Drittel des Naphtha-Bedarfs in Deutschland und die Hälfte des Kerosinbedarfs als Sustainable Aviation Fuel (SAF) decken.
J. Richter: Im BMBF-WIR-Projekt Grüner Kalk untersuchen wir einen alternativen Weg. Ein Ofen zum Kalkbrennen wird nicht mehr mit Erdgas, sondern elektrisch beheizt, sodass im Grunde reines CO2 produktinhärent entsteht. Durch eine nachgeschaltete Methanisierung mit regenerativ erzeugtem Wasserstoff und einer angeschlossenen Methanpyrolyse fällt Kohlenstoff am Ende der Prozesskette in elementarer Form an und gelangt eben nicht als CO2 in die Atmosphäre. Der bei der Pyrolyse aus dem Methan erzeugte Wasserstoff wird in die Methanisierungs-Reaktion zugeführt. Das CO2-intensive Kalkbrennen könnte mit diesem Verfahren CO2-neutral werden. Nimmt der Kalk dieses CO2 beim Aushärten auf, entsteht sogar eine CO2-Senke.
H. Richter: Der Einsatz der keramischen Membranen, wie eben geschildert, kann als Abtrenntechnologie für Prozessgase generell ein Game-Changer sein. Aktuell wird in der Industrie wie auch in einigen Biogasanlagen großtechnisch die Aminwäsche eingesetzt, um CO2 aus Gasströmen abzuscheiden. Sie wirft gleichzeitig viele Fragen hinsichtlich der Zusammensetzung des Rauchgases oder der Haltbarkeit der Aminlösung selbst auf, und sie hat grundlegend einen hohen zusätzlichen Energiebedarf. Auch Polymermembranen kommen in kleinem Maßstab zum Einsatz. Unser Fokus liegt auf keramischen Membranen, die im Vergleich zu den Polymermembranen extreme Temperaturen vertragen und bei einer CO2-Abtrennrate von 98 % gegen verschiedene Nebenkomponenten im Abgas, wie Stickoxide oder Schwefeloxide, stabiler sind. So ließe sich der Abgasstrom nicht nur hochselektiv, sondern auch chemikalienfrei aufreinigen. Für eine Nullemission ließen sich die Membranen mit einer kleinskaligen Adsorption koppeln. Mehrere Studien belegten bereits:
»Membranverfahren sparen gegenüber klassischen Abtrennverfahren 80 % Energie.«
J. Richter: Das ist vorteilhaft, da viele Nutzungswege auf elektrischen Strom zurückgreifen, der idealerweise regenerativ erzeugt ist. Jede Energieeinsparung hilft an dieser Stelle sofort dem gesamten System. Erneuerbare Energie muss ausreichend verfügbar sein, um die angedachten Systeme zu betreiben und daraus beispielsweise grünen Wasserstoff für die Folgesynthesen zu erzeugen, in Deutschland oder europa- und weltweit.
Wie kann Biomasse als nachhaltige Kohlenstoffquelle nutzbar gemacht werden?
M. Stelter: Eines vorweg: Als interessante Biomasse betrachten wir grundsätzlich landwirtschaftliche, aber auch kommunale und industrielle organische Abfall- und Reststoffe, also beispielsweise Pflanzenreste oder Gülle. Es darf keine Konkurrenz zu Anbauflächen für die Lebensmittelproduktion entstehen. Aus einer Biogasanlage erhalten wir fermentativ erzeugtes Biogas, das sich aus rund 40 % biogenem CO2 und 60 % Methan zusammensetzt. Bislang entweicht das wertvolle CO2 ungenutzt. Häufig wird das Methan aufgereinigt und in das Erdgasnetz eingespeist, wenn keine ausschließliche Strom- und Wärmenutzung erfolgt. Laufen die Einspeisevergütungen in den nächsten Jahren schrittweise aus, funktioniert dieses Geschäftsmodell nicht mehr. Dann braucht es Ideen, um landwirtschaftliche Betriebe weiterhin wirtschaftlich betreiben zu können. Daher lohnt es sich, über eine stoffliche Nutzung des gesamten Gases aus den Biogasanlagen nachzudenken. Ein Ansatz hier wäre es, Treibstoff für Nutzfahrzeuge, wie Traktoren, herzustellen. Das ließe sich mit einer kleinen, modularen Membrananlage realisieren, in der das verfügbare Methan direkt aufgereinigt wird.
H. Richter: Das ist teils auch Gegenstand des EU-Projekts METHAREN. Darin wollen wir neue kosteneffiziente Verfahren an Biogasanlagen demonstrieren, die die Kohlenstoff-Umwandlungsrate von Biomasse zu Methan auf 80 % steigern. Das hieße im Umkehrschluss, dass sich die CO2-Emissionen an Biogasanlagen halbierten. Das wäre ein großer Hebel, um den Gasbedarf in Europa importunabhängig zu decken. In Turin, Italien, steht dafür eine Pilotanlage, in der auch unsere keramische Membrantechnologie zum Einsatz kommen soll. Bereits in einem anderen Projekt Innomem zeigten wir, dass unsere neuartigen Zeolithmembranen ausgezeichnete Trennleistungen in dieser Anwendung erbringen.
M. Jahn: Wenn wir bei der post-fossilen Energiebereitstellung sind, gehen Forschung und Entwicklung auch dahin, eine wetterunabhängige, dezentrale stabile Stromversorgung zu gewährleisten, indem die Biogasanlage mit einem Hochtemperatur-Festoxid-Brennstoffzellensystem (SOFC) gekoppelt wird. Konventionelle Blockheizkraftwerke (BHKW) arbeiten in der Regel mit Gasmotoren, die einen elektrischen Wirkungsgrad von 40 % aufweisen. Ein großer Teil des Energiepotenzials, das in der Biomasse steckt, bleibt ungenutzt. SOFC-Systeme sind mit 60 % deutlich effizienter. Grundsätzlich ist neben der Strombereitstellung auch immer die Nutzung der Wärme für eine möglichst hohe Gesamtausnutzug der Energie zu berücksichtigen. Da die Festoxidzellen sowohl als Brennstoffzellen als auch als Elektrolysezellen betrieben werden können, werden die Investitionskosten durch den Ausbau von Elektrolysekapazitäten mittel- bis kurzfristig stark sinken. Alternativ zur Bereitstellung von Strom und Wärme über die Brennstoffzelle kann das Biogas auch zu Synthesegas reformiert und wie im vorherigen Beispiel über die Fischer-Tropsch-Synthese zunächst dezentral in SynCrude und anschließend zentral in Raffinerien zu SAF und Naphtha umgewandelt werden.
»Mit dem synthetischen Öl aus biogenen Abfällen steht uns ein hochwertiges Rohprodukt aus regionaler Erzeugung zur Verfügung.«
Das ist vorteilhaft für die Aufbereitung. Evaluiert wurde das Konzept bereits in einer Biogasanlage in Thallwitz bei Leipzig.
Ab welcher Anlagengröße lohnt sich das?
M. Jahn: Unseren Berechnungen und techno-ökonomischen Bewertungen zufolge kann der Einsatz bereits an einer durchschnittlichen deutschen Biogasanlage mit einer Leistung von 500 kW sinnvoll sein. Zu beachten gilt: Wo erfolgt die Aufbereitung, wo die Nutzung? Die Region um Leipzig mit großem Flughafen, Landwirtschaft und dem Chemiepark in Leuna ist eine Beispielregion, in der eine neue Wertschöpfungskette etabliert werden kann.
M. Gräbner: Mit der TU Freiberg setzen wir gegenüber der genannten Fischer-Tropsch-Route auf Methanol-basierte Prozesse, um regenerative Kraftstoffe zu erzeugen. Im letzten Quartal produzierten wir in einer Großversuchsanlage bereits 55 000 Liter grünes Benzin auf Basis von Bio-Methanol. Das Produkt ist seit Weihnachten 2023 nach DIN EN 228 zertifiziert, REACh-registriert und kann als E10 getankt werden. Das ist ein riesiger Meilenstein, der im Verbundprojekt DeCarTrans erreicht wurde.
M. Stelter: Das heißt doch, dass regionale Biomasse dafür genutzt werden könnte, Kraftstoffe dezentral herzustellen, um eine kleine Region direkt zu versorgen?
M. Gräbner: Das wäre der nächste Skalierungsschritt. Die Zielmarke, auf die unser Industriepartner CAC Engineering GmbH hinarbeitet, liegt bei 250 000 t Benzin im Jahr. Damit wären in einer industriellen Anlage Herstellungskosten von unter einem Euro pro Liter erreichbar. Wir werden ergänzend allerdings erneuerbare Energie aus energiebegünstigten Ländern in Form von Wasserstoff und seinen Derivaten importieren müssen, wenn wir die Kosten geringhalten wollen, und dazu zählt der Kohlenstoffträger Methanol. Wichtig dabei ist natürlich, dass das Methanol aus CO2 aus der Luft oder eben biogenen Quellen synthetisiert wurde, damit wir eine Kreislaufschließung erreichen. Methanol ist so schön flexibel, dass wir es erstens als Kraftstoff für die energetische Nutzung in die bestehende Infrastruktur einbringen und zweitens stofflich als Rohstoffbasis für die chemische Industrie anbieten können. Dafür wären lediglich geringe Prozessänderungen in denselben Anlagen notwendig, um von Methanol-to-Gasoline z. B. auf Methanol-to-Jet, wie in unserem Verbundprojekt EwOPro, oder Methanol-to-Chemicals umzustellen. Hierbei erhalten wir Chemieprodukte, wie den Kunststoff Polypropylen, der schon heute auf Methanolbasis erzeugt wird – allerdings stammt das Methanol aus Kohle. Der Import von regenerativ erzeugtem Methanol hingegen kann zu einer nachhaltigen Kohlenstoffbilanz der Chemieindustrie beitragen.
M. Jahn: In Chile begleiten wir im BMBF-Projekt Power-to-MEDME-FuE beispielsweise aktuell den Aufbau einer Pilot-Produktionsstätte für Methanol. Im Rahmen des Projekts wird in einem Folgeprozess Dimethylether (DME) erzeugt, welches zum einen direkt als Ersatz für Diesel, aber auch als Trägermedium für den Transport von Wasserstoff genutzt werden kann. Bei der Rückumwandlung von DME in Wasserstoff wird CO2 freigesetzt. Wird dieses dort auch direkt abgetrennt und in das Exportland, in diesem Fall Chile, zurückgebracht, kann der Kohlenstoffkreislauf weitgehend geschlossen werden. Nur eine geringe Menge CO2 muss dann aus der Luft zusätzlich abgeschieden werden.
J. Richter: Methanol ist als flüssiger Wasserstoffträger auch für die Schifffahrt interessant, die bisher ein gewaltiger fossiler CO2-Emittent ist. Über das Methanolreforming lässt sich Methanol mit Wasser zu Wasserstoff und CO2 reformieren. Wird ein Membranreaktor als Reformer eingesetzt, können Wasserstoff und CO2 direkt während dieser Reaktion voneinander getrennt werden. Wasserstoff treibt das Schiff an, während CO2 verflüssigt an Bord in den freiwerdenden Methanoltanks gebunkert wird. In dieser reinen Form lässt es sich an Land erneut für die Methanolherstellung nutzen. Es entsteht ein geschlossener CO2-Kreislauf. Im EU-Projekt HyMethShip übernahmen wir dafür die Prozess- und Reaktorauslegung sowie die Ausstattung dieser Reaktoren mit Membranen und Katalysator.
Bleiben wir bei der anthropogenen, vom Menschen gemachten Kohlenstoffquelle – Kunststoff. Welche Verfahren kommen hier zum Einsatz?
M. Gräbner: Bislang landet in Deutschland über die Hälfte aller kunststoffhaltigen Abfälle in der Müllverbrennung. Das sind über drei Millionen Tonnen im Jahr, bislang nicht oder nur unter großem Aufwand bearbeitbare Verbundwerkstoffe oder Mischkunststoffe. Der darin enthaltene Kohlenstoff entweicht dabei als klimaschädliches CO2 in die Atmosphäre. Durch chemisches Recyling, wie der Pyrolyse und der Gasifizierung, halten wir den Kohlenstoff dagegen nahezu vollständig im Kreislauf. Abfälle lassen sich damit in ihre kleinsten Baueinheiten aufknacken. Wir untersuchen dies im Fraunhofer-Leitprojekt Waste4Future. Die im nächsten Schritt präzise zusammensetzbaren Recycling-Produkte sind qualitativ nicht von einem neuen fossilen Produkt zu unterscheiden. Die Gasifizierung ermöglicht es uns sogar, Kohlenstoff auch aus kritischen, z. B. chlorkontaminierten, Stoffen zurückzuholen. Dazu zählt Polyvinylchlorid (PVC) aus den 90er Jahren, das z. B. mit Blei und Brom versetzt ist. Die Rückläufer – Bodenbeläge, Fensterrahmen, Kabelisolationen – werden heute zum Teil in Kalkbrennöfen durchgefahren, in denen das Chlor als Salz absorbiert wird. Mit der Gasifizierung lässt sich sowohl Chlor als Salzsäure gewinnen und in die Chlorproduktion zurückführen, als auch Kohlenstoff als Kohlenmonoxid. Außerdem treten keine Rauchgase und Filterstäube auf wie bei einer Verbrennung. Es müssen keine Aschen als Sondermüll deponiert werden. Wir verschlacken die Stoffe zu einem glasartigen Material, in dem gefährliche Schwermetalle oder giftige Mineralstoffgemische sicher eingebunden sind. Körnig aufgemahlen kann es dann der Baustoffindustrie als Sandersatz dienen. Prinzipiell sind wir in den Anlagen aber flexibel, was die Einsatzstoffe betrifft. So lässt sich Biomasse nicht nur in der Biogasanlage aufspalten, sondern auch in der Pyrolyse zu wertvollem Koks umwandeln.
Das erfordert doch sehr viel Energie?
M. Gräbner: Um eine kontinuierliche industrielle Pyrolyse oder Gasifizierung betreiben zu können, muss der Müll zwingend homogenisiert werden. Metallteile, mineralische Elemente und Feuchtigkeit können aber schon mit einfacher Verfahrenstechnik abgetrennt werden, was den weiteren Aufwand und Energieeinsatz insgesamt deutlich reduziert. In einem Gasifizierungsprozess wird dann typischerweise etwa nur ein Fünftel der eingesetzten Energie als Wärme freigesetzt. Da wir die gesamte Wertschöpfungskette inklusive aller Nebenströme betrachten, wie den Schlacken, steigern wir damit auch die Ressourceneffizienz. Entsorgungskosten reduzieren sich, nichts geht verloren oder landet auf einer Deponie. Damit ist diese Herangehensweise energetisch deutlich günstiger, als CO2 aus der Luft einzufangen, nachdem die wertvollen Kohlenstoffträger verbrannt wurden.
All diese Szenarien konkurrieren um dieselben Kohlenstoffquellen. Werden diese nicht versiegen, wenn wir als Gesellschaft weniger Kunststoffprodukte nutzen und das begrenzte Biomassepotenzial erschöpft ist?
M. Gräbner: Deshalb ist es so wichtig, Kohlenstoffe im Kreislauf zu halten, indem wir die kohlenstoffhaltigen Bestandteile im Abfall besser verwerten und daraus wieder hochwertige Ausgangsmaterialien für die Industrie herstellen.
»Kohlenstoff wird in einer defossilisierten Wirtschaft das bestimmende Element sein, um die notwendigen Mengen an regenerativen Kraftstoffen und nachhaltigen Chemieprodukten bereitzustellen.«
Ohne CO2 aus der Atmosphäre wird es langfristig kaum gelingen. Denn theoretisch würde die gesamte Abfallmenge, die heute in deutschen Müllverbrennungsanlagen landet, lediglich dafür ausreichen, gerade so die chemische Industrie mit Kreislauf-Kohlenstoff zu versorgen. Daher muss zunächst in jedem Fall auch CO2 an jeglichen Punktquellen abgefangen und als Energie- und Stoffträger zugelassen werden – bevor es eben in der Atmosphäre verdünnt und dann teuer abgetrennt werden muss.
M. Jahn: Ja, Kohlenstoff wird ein knappes Gut. Für den Umbau der Anlagen braucht es regulatorische Anreize, wie die Quotenregelung für die Zumischung von grünem Kerosin, also SAF. Unseren Kundinnen und Kunden bieten wir an, die Nutzungspfade unter ökonomischen, ökologischen und sozialen Aspekten zu analysieren. So lässt sich die sinnvollste Variante ermitteln, die sich über kurz oder lang rechnen wird – wirtschaftlich und für das Klima.